Der unerwartete Besucher

Die Dämmerung kroch wie ein zögerlicher Liebhaber über den Horizont, malte den Himmel in Schattierungen von Wehmut und Verlangen. Ich saß am Fenster, die Kälte des Glases an meiner Stirn, und wartete. Nicht auf etwas Bestimmtes, sondern auf das Etwas, das unbestimmte Gefühl, das mich seit Tagen heimsuchte. Ein Kribbeln in den Fingerspitzen, ein Flüstern im Nacken, das Versprechen einer Veränderung, die so süß und schmerzhaft war wie der erste Kuss.

Die Uhr an der Wand tickte, jede Sekunde ein Hohn auf die Ewigkeit, die ich in mir trug. Eine Ewigkeit, gefangen in der Hülle eines sterblichen Augenblicks. Ein Paradoxon, das mich zu zerreißen drohte, wie ein zu eng geschnürtes Korsett, das die Seele erstickte.

Und dann war er da.

Nicht mit einem Knall, nicht mit einem Blitz. Sondern mit einem Seufzen des Windes, der sich in den alten Dielen verfing. Ein Schatten, der sich aus der Dunkelheit schälte, formlos und doch von einer Präsenz, die den Raum zu erdrücken schien. Keine Gestalt, die ich hätte beschreiben können, keine Augen, die mich ansahen. Nur… Präsenz.

Ein Flüstern, so leise, dass ich es eher fühlte als hörte, drang in meinen Geist. Worte, die keine waren, Bilder, die sich vor meinem inneren Auge entfalteten. Ein Tanz der Sterne, der Fall eines Engels, das Echo einer verlorenen Liebe. Alles und Nichts, in einem einzigen, unendlichen Moment vereint.

Mein Herz – ein wilder Vogel in der Brust – schlug gegen die Rippen, flehte um Befreiung, um Vereinigung mit diesem namenlosen Wesen, das vor mir stand. Oder schwebte. Oder war. Die Grenzen der Realität verschwammen, lösten sich auf wie Zucker in heißem Tee.

Ich streckte die Hand aus, eine stumme Bitte, ein Verlangen, das älter war als die Zeit selbst. Die Finger berührten etwas Kühles, Glattes, Unfassbares. Ein Gefühl von unendlicher Tiefe, von Wissen, das jenseits aller Worte lag, durchströmte mich. Ein Versprechen. Eine Warnung.

Und dann, so plötzlich, wie er gekommen war, war er wieder fort.

Die Dunkelheit hatte sich zurückgezogen, der erste Strahl der Morgensonne fiel durch das Fenster. Die Uhr tickte weiter, unbeeindruckt von dem, was geschehen war. Oder nicht geschehen war.

Ich blieb zurück, zitternd, erschöpft, erfüllt von einer Sehnsucht, die schmerzhafter war als jede Wunde. Ein einziger Moment, eine Ewigkeit, geraubt und doch geschenkt. Ein unerwarteter Besucher, der mir alles genommen und alles gegeben hatte.

Und ich wusste, mit einer Gewissheit, die tiefer ging als jeder Zweifel, dass ich auf den nächsten warten würde. Auf die nächste Sekunde, die meine Ewigkeit sein würde. Denn in der Flüchtigkeit liegt die wahre Unsterblichkeit. In der Erinnerung, die brennt wie ein ewiges Feuer.

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