Der Fremde mit den Schwefelaugen
Eine Kurzgeschichte
Eine Geschichte über Fremdheit, Neuanfang und die Suche nach dem eigenen Platz in einer unbekannten Welt
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Der Riss in der Realität war kaum größer als ein Nadelstich, als Azramon hindurchglitt. Ein kurzes Flimmern in der Luft, ein leises Zischen wie von verbranntem Schwefel – niemand bemerkte die Ankunft des Fremden an jenem regnerischen Dienstagmorgen. Die Passanten hasteten mit gesenkten Köpfen durch den Berliner Nieselregen, Schirme und Kapuzen schützten vor dem Blick nach oben, wo sich der Himmel in einem schmutzigen Grau erstreckte.
Azramon atmete tief ein. Die Luft war anders als in den Tiefen, aus denen er kam. Keine Schwefeldämpfe, kein beißender Geruch von verbrannten Seelen. Stattdessen roch es nach nassem Asphalt, nach den Abgasen der vorbeifahrenden Autos und – er schnupperte irritiert – nach frisch gebackenem Brot?
Er betrachtete seine Hände. Die schuppige, rotglühende Haut hatte einem blassen, menschlichen Inkarnat Platz gemacht. Seine Klauen waren verschwunden, ebenso seine imposanten Hörner. Mit tastenden Fingern berührte er sein Gesicht, spürte weiche Haut statt harter Chitin-Platten. Der Übergang hatte funktioniert. Er sah aus wie ein Mensch.
Ein vorbeieilender Geschäftsmann rempelte ihn an. "Pass doch auf, Mann!", knurrte der Anzugträger, ohne seinen Schritt zu verlangsamen.
Azramon spürte, wie sich etwas in ihm regte. In der Hölle hätte er diesem Wurm für seine Unverschämtheit die Eingeweide herausgerissen und sie als dekorative Girlande aufgehängt. Doch hier, in dieser Welt, musste er sich anpassen. Das war der Preis für seine Flucht.
Er hatte lange auf diesen Moment gewartet, hatte Äonen damit verbracht, die Wächter der Pforten zu studieren, ihre Gewohnheiten zu katalogisieren, ihre Schwächen zu entdecken. Und schließlich hatte er den Moment genutzt – war durch den Riss geschlüpft, den ein unvorsichtiger Beschwörer hinterlassen hatte. Ein flüchtiger, kaum wahrnehmbarer Übergang zwischen den Welten, ein Nadelöhr für einen, der bereit war, alles zurückzulassen.
Der Nieselregen durchnässte langsam seine Kleidung – schlichte, dunkle Stoffe, die seine fremdartige Gestalt bei der Ankunft umhüllt hatten. Die ungewohnte Feuchtigkeit auf seiner Haut fühlte sich seltsam an. Nicht unangenehm, nur... anders. In der Hölle gab es keinen Regen. Nur Feuer, Schwefel und gelegentlich einen Sturm aus glühender Asche.
Azramon ging langsam die Straße entlang. Seine neuen menschlichen Augen brauchten Zeit, sich an das gedämpfte Licht zu gewöhnen. In der Hölle war es entweder gleißend hell vom Feuer oder pechschwarz. Diese Zwischentöne, dieses diffuse Grau, irritierte ihn.
Das Gebäude vor ihm zog seine Aufmerksamkeit auf sich. Ein großes Schild verkündete: "Stadtbibliothek Berlin". Menschen strömten ein und aus, manche mit Büchern unterm Arm, andere mit diesen seltsamen rechteckigen Geräten, in die sie ständig starrten.
Wissen. Das brauchte er jetzt am dringendsten. Azramon folgte einer Gruppe Studenten durch die breite Glastür ins Innere.
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Die Bibliothekarin beäugte den seltsamen Mann misstrauisch. Irgendetwas an ihm stimmte nicht. Die Art, wie er seinen Bibliotheksausweis betrachtete – als hielte er ein exotisches Insekt in der Hand. Wie er über die einfachsten Formalitäten staunte. Und dann diese Augen... In bestimmten Lichtwinkeln schienen sie golden zu schimmern, fast wie die eines Tieres.
"Ihre Adresse fehlt noch", sagte sie und tippte auf das Formular.
Azramon blinzelte verwirrt. "Adresse?"
"Ja, wo Sie wohnen. Straße, Hausnummer, Postleitzahl?"
Ein leichtes Prickeln lief über seine Haut. Die ersten Hürden der menschlichen Bürokratie. Er hatte nicht damit gerechnet, dass es so schnell kompliziert werden würde.
"Ich bin... gerade erst in die Stadt gezogen", improvisierte er. Seine Stimme klang selbst für ihn fremd – sanfter, weniger grollend als in seiner wahren Form. "Ich habe noch keine feste Bleibe."
Die Bibliothekarin seufzte. "Dann brauchen Sie eine Meldebescheinigung oder einen Mietvertrag, sobald Sie eine Wohnung haben. Ohne festen Wohnsitz kann ich Ihnen keinen vollständigen Ausweis ausstellen."
Azramons Finger verkrampften sich leicht. In seinem früheren Leben hätte jetzt jemand schreiend um sein Leben gebettelt. Er zwang sich zur Ruhe, formte seine Lippen zu etwas, das er für ein Lächeln hielt.
"Ich verstehe. Darf ich trotzdem... umsehen?"
Die Frau nickte zögernd. "Natürlich. Die Präsenzbibliothek steht allen offen. Ausleihen können Sie allerdings erst mit gültigem Ausweis."
Er verbeugte sich leicht – eine Geste, die er irgendwo aufgeschnappt hatte – und wandte sich den endlosen Regalreihen zu.
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In den folgenden Stunden vertiefte sich Azramon in die Welt der Menschen. Geschichte, Geografie, Politik, Wissenschaft – er sog das Wissen begierig auf. Seine dämonische Natur verhalf ihm zu einem fotografischen Gedächtnis; jede Seite, die er las, brannte sich unauslöschlich in sein Bewusstsein ein.
Was er über die Menschen erfuhr, verwirrte ihn zunehmend. Diese Wesen waren widersprüchlicher, als er je vermutet hätte. Sie führten Kriege im Namen des Friedens. Sie predigten Nächstenliebe und ließen Fremde an ihren Grenzen sterben. Sie besaßen die Fähigkeit zu unglaublicher Grausamkeit und zu atemberaubender Schönheit.
In vielem waren sie den Dämonen ähnlicher, als sie je zugeben würden.
Als die Abenddämmerung hereinbrach, verließ Azramon mit schmerzenden Augen die Bibliothek. Sein Kopf war voll mit Informationen, doch sein Magen – ein Organ, das in seinem dämonischen Körper keine Rolle gespielt hatte – knurrte vernehmlich.
Auf der gegenüberliegenden Straßenseite leuchtete ein Schild: "Döner Paradies – 24 Stunden geöffnet". Das Wort "Paradies" löste bei ihm ein unwillkürliches Zucken aus – ein Ort, den seinesgleichen niemals betreten durfte. Doch der Geruch, der von dort herüberwehte, war... verführerisch.
Er überquerte die Straße und betrat den kleinen Imbiss.
"Einmal Döner mit alles?", fragte der bärtige Mann hinter der Theke routiniert.
Azramon nickte unsicher. Der Mann griff nach einem großen Spieß mit Fleisch, das an einer senkrechten Achse rotierte, und begann geschickt, dünne Scheiben abzuschneiden.
"Bist du neu hier?", fragte der Dönerverkäufer, während er die Brotfladen aufschnitt. "Habe dich noch nie gesehen."
"Ja", antwortete Azramon. "Ich bin... nicht von hier."
"Kann man hören", nickte der Mann. "Woher kommst du? Dein Akzent klingt... ungewöhnlich."
Azramon zögerte. "Von weit her. Aus dem... Süden."
Der Mann lachte. "Ach so, ein Südländer! Mein Cousin kommt aus Antalya. Wunderschöne Gegend." Er reichte Azramon den fertigen Döner. "Sechs fünfzig."
Azramon starrte auf die ausgestreckte Hand des Mannes.
_Geld_, durchfuhr es ihn. Ein weiteres Problem, an das er nicht gedacht hatte. In der Hölle gab es kein Geld. Dort wurde mit anderen Währungen gehandelt – Gefallen, Seelen, Versprechen.
"Ich... habe kein Geld", gestand er.
Der Dönerverkäufer runzelte die Stirn, musterte ihn von Kopf bis Fuß. Dann seufzte er. "Heute Abend geht's auf mich, Bruder. Jeder hat mal einen schlechten Tag. Aber morgen zahlst du, ja?"
Azramon starrte den Mann ungläubig an. In der Hölle wäre so etwas undenkbar gewesen. Uneigennützigkeit existierte dort nicht.
"Danke", sagte er leise. "Das werde ich nicht vergessen."
Er nahm den Döner entgegen und biss hinein. Die Explosion von Geschmäckern auf seiner Zunge ließ ihn aufkeuchen. Scharf, salzig, süß, sauer – alles vermischte sich zu einer Symphonie der Sinne. In der Hölle gab es keine Nahrung, wie Menschen sie kannten. Dort ernährte man sich von abstrakteren Dingen.
"Gut, oder?", grinste der Verkäufer.
"Unbeschreiblich", murmelte Azramon mit vollem Mund.
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Die Nacht verbrachte Azramon in einem verlassenen Lagerhaus am Rand der Stadt. Schlaf war für ihn ein neues Konzept – in der Hölle gab es keine Ruhe, keine Erholung. Nur endlose Aktivität. Die Stille und die Dunkelheit der Nacht waren beunruhigend und tröstlich zugleich.
Am nächsten Morgen machte er sich auf die Suche nach einer Möglichkeit, Geld zu verdienen. Die Menschen schienen alles mit diesem seltsamen Tauschmittel zu regeln. Ohne Geld war er in dieser Welt machtlos – eine ironische Umkehrung seiner früheren Existenz.
In einem Café an der Ecke hing ein Schild im Fenster: "Aushilfe gesucht". Azramon betrat den Laden.
Die Besitzerin, eine energische Frau mittleren Alters, musterte ihn kritisch. "Erfahrung im Service?"
"Nein", antwortete er ehrlich.
"Aufenthaltserlaubnis? Steuerkarte?"
Er schüttelte den Kopf.
Sie seufzte. "Schwarz kann ich dich nicht beschäftigen. Zu riskant." Sie betrachtete ihn eingehender. "Du siehst aus, als könntest du eine Pause und einen Kaffee gebrauchen. Setz dich."
Wieder diese unerwartete Freundlichkeit. Azramon nahm verwirrt Platz.
"Woher kommst du?", fragte die Frau, während sie ihm eine Tasse Kaffee einschenkte.
"Von weit her", antwortete er ausweichend.
"Auf der Flucht?"
Er zuckte zusammen. "Warum denken Sie das?"
Die Frau lächelte mild. "Ich erkenne den Blick. Mein Mann kam vor dreißig Jahren aus dem Iran. Er hatte denselben Ausdruck in den Augen. Diese Mischung aus Vorsicht und Hoffnung."
Azramon nippte an seinem Kaffee, unsicher, wie er reagieren sollte. "Ja", sagte er schließlich. "Man könnte sagen, ich bin geflohen."
"Vor wem?"
"Vor... einem sehr strengen Regime", antwortete er vage. "Ein Ort, wo man keine eigenen Entscheidungen treffen darf. Wo alles vorherbestimmt ist."
Die Frau nickte verstehend. "Mein Mann könnte dir vielleicht helfen. Er arbeitet mit Flüchtlingen. Kennt die Behördenwege."
Azramon lächelte dünn. Er bezweifelte, dass irgendein Mensch Erfahrung mit seiner Art von "Flüchtling" hatte. Die Einwanderungsbehörde für interdimensionale Wesen existierte vermutlich noch nicht.
"Danke für den Kaffee", sagte er und stand auf.
"Warte." Die Frau verschwand kurz im Hinterzimmer und kam mit einem Zettel zurück. "Hier ist die Adresse von einem Nachtlager für Obdachlose. Und das ist die Nummer von meinem Mann. Ruf ihn an, wenn du Hilfe brauchst."
Azramon nahm den Zettel entgegen, plötzlich von einem seltsamen Gefühl überwältigt. In seiner Heimat war Hilfe immer an Bedingungen geknüpft, an Verträge, an Konsequenzen.
"Warum tun Sie das?", fragte er leise.
Die Frau zuckte mit den Schultern. "Warum nicht? Jeder braucht mal Hilfe."
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Die folgenden Wochen waren für Azramon eine Achterbahnfahrt der Entdeckungen. Er fand Arbeit bei einem Umzugsunternehmen – schwere körperliche Arbeit, für die sein immer noch übermenschlich starker Körper gut geeignet war und die keine Papiere erforderte. Er bekam ein Bett in einer Gemeinschaftsunterkunft für Wohnungslose. Er lernte die Stadt kennen, ihre Rhythmen, ihre versteckten Winkel.
Und er lernte die Menschen kennen. Ihre Schwächen, ihre Stärken, ihre unendlichen Widersprüche. Er sah Grausamkeit – betrunkene Männer, die nachts einen Obdachlosen verhöhnten; ein Pärchen, das sich auf offener Straße anschrie und schlug; ein Kind, das ein jüngeres Kind quälte, nur weil es konnte.
Aber er sah auch Güte – eine alte Frau, die ihre magere Rente mit streunenden Katzen teilte; ein Busfahrer, der wartete, bis eine humpelnde Seniorin den Bus erreicht hatte; ein Straßenmusiker, der sein erspieltes Geld mit einem noch ärmeren Bettler teilte.
Diese Gegensätze verwirrten ihn zutiefst. In der Hölle war alles klar gewesen. Gut und Böse, wenn man diese menschlichen Begriffe verwenden wollte, waren dort deutlich getrennt. Hier verschwammen die Grenzen ständig.
Nach drei Monaten in der Menschenwelt hatte Azramon genug Geld gespart, um ein kleines Zimmer zu mieten – ein schäbiges Loch in einem heruntergekommenen Mehrfamilienhaus, aber es war sein. Über dubiose Kanäle hatte er sich falsche Papiere beschafft – nicht perfekt, aber gut genug, um nicht sofort aufzufallen.
Er hatte sich eingerichtet in dieser Welt. Doch die Frage, die ihn geplagt hatte, seit er den Riss durchschritten hatte, blieb unbeantwortet: Warum war er hier? Was suchte er wirklich?
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An einem Herbstabend, als die Blätter golden von den Bäumen fielen, saß Azramon auf einer Parkbank und beobachtete die vorbeiziehenden Menschen. Eine Gruppe Kinder spielte Fangen zwischen den Bäumen, ihre Lachen echote über den Platz.
"Darf ich mich setzen?", fragte eine ältere Stimme.
Azramon blickte auf. Ein weißhaariger Mann mit Gehstock stand vor ihm.
"Natürlich", sagte er und rückte zur Seite.
Der alte Mann ließ sich schwerfällig auf die Bank sinken. "Ah, die Knie. Werden nicht besser mit dem Alter." Er lächelte freundlich. "Ich bin Herbert."
"Az—", Azramon stockte, korrigierte sich. "Alex."
Sie saßen eine Weile schweigend nebeneinander, beobachteten die spielenden Kinder.
"Sie sind nicht von hier, oder?", fragte Herbert schließlich.
Azramon spannte sich an. Hatte der alte Mann etwas bemerkt? Konnte er hinter seine menschliche Fassade blicken?
"Keine Sorge", lachte Herbert. "Ich meine nur, Sie scheinen nicht aus Deutschland zu kommen. Ihr Akzent."
Azramon entspannte sich leicht. "Nein, ich bin... weit gereist."
"Und? Wie gefällt es Ihnen hier?"
Die Frage überraschte ihn. Niemand hatte ihn das bisher gefragt. Er dachte nach.
"Es ist kompliziert", sagte er schließlich. "Die Menschen hier sind... widersprüchlich."
Herbert nickte bedächtig. "Oh ja, das sind wir. Engel und Teufel, beides gleichzeitig." Er lachte leise. "Manchmal denke ich, dass genau das unsere größte Stärke ist. Diese Fähigkeit, beides zu sein."
Azramon runzelte die Stirn. "Eine Stärke? Ich hätte es eher als Schwäche gesehen."
"Nein, nein." Herbert schüttelte den Kopf. "Sehen Sie, wäre der Mensch nur gut – wie langweilig wäre das! Keine Spannung, keine Entwicklung. Wäre er nur böse – wie trostlos! Nein, es ist dieser ewige Kampf in uns, der uns interessant macht. Diese Freiheit zu wählen, jeden Tag aufs Neue."
Die Worte trafen Azramon unerwartet tief. In der Hölle gab es keine Wahl. Keine Freiheit. Nur eine vorbestimmte Rolle in einer ewigen Hierarchie.
"Freiheit zu wählen", wiederholte er leise.
"Genau", nickte Herbert. "Manche nennen es den freien Willen. Für mich ist es das größte Geschenk und die schwerste Bürde zugleich." Er klopfte Azramon freundschaftlich auf die Schulter. "Aber nun muss ich los. Meine Frau wartet mit dem Abendessen."
Der alte Mann erhob sich mühsam, stützte sich auf seinen Stock.
"War nett, mit Ihnen zu plaudern, Alex. Vielleicht sehen wir uns hier wieder."
Als Herbert davonhumpelte, blieb Azramon nachdenklich zurück. Freiheit zu wählen. War es das, was er gesucht hatte, als er durch den Riss kam? War es das, was ihm in der Hölle gefehlt hatte?
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Im Winter fand der Brief seinen Weg zu ihm. Ein schlichter Umschlag ohne Absender, unter seiner Tür durchgeschoben.
"Wir wissen, wer du bist", stand darin in schwungvoller Handschrift. "Triff uns morgen um Mitternacht im alten Wasserwerk."
Azramon spürte, wie sein menschliches Herz schneller schlug. War es möglich, dass andere wie er hier waren? Oder hatte jemand seine wahre Natur entdeckt? War es eine Falle?
Die Neugierde siegte über die Vorsicht. Am nächsten Abend machte er sich auf den Weg zum verlassenen Industriekomplex am Stadtrand.
Das alte Wasserwerk ragte wie ein gothischer Koloss in den nächtlichen Himmel. Zerbrochene Fenster starrten wie leere Augenhöhlen in die Dunkelheit. Azramon drückte die schwere Eisentür auf, die mit überraschendem Leichtigkeit nachgab.
Im Inneren flackerten Kerzen und erhellten die gewaltige Halle mit ihrem rostigen Maschinenpark. Fünf Gestalten standen in einem lockeren Halbkreis und erwarteten ihn.
"Willkommen, Bruder", sprach eine Frau in einem roten Kleid. "Wir haben dich erwartet."
Azramon trat näher, seine Sinne geschärft. "Wer seid ihr?"
Die Frau lächelte. "Siehst du es nicht? Wir sind wie du. Nicht von hier."
Er studierte die Gruppe genauer. Auf den ersten Blick wirkten sie menschlich. Doch nun bemerkte er die feinen Unterschiede – ein zu stechender Blick hier, eine zu geschmeidige Bewegung dort, ein kaum wahrnehmbares Flimmern der Luft um sie herum.
"Ihr seid durch den Riss gekommen", stellte er fest.
Ein älterer Mann mit Brille nickte. "Manche vor Jahrhunderten, manche erst kürzlich. Wir haben verschiedene Namen – Dämonen, Feen, Geister, Götter. Die Menschen haben viele Bezeichnungen für Wesen wie uns."
"Was wollt ihr von mir?"
Die Frau im roten Kleid trat vor. "Dir helfen. Dir zeigen, dass du nicht allein bist. Dich warnen."
"Wovor?"
"Vor der Veränderung." Sie gestikulierte zu den anderen. "Siehst du es nicht? Je länger wir hier sind, desto mehr werden wir wie sie."
Azramon runzelte die Stirn. "Was meinst du damit?"
Ein junger Mann mit wildem Haar sprach auf: "Unsere Macht schwindet mit der Zeit. Wir werden... menschlicher. Empfindlicher. Verletzlicher."
"Aber auch freier", ergänzte eine ältere Frau mit silbernem Haar. "Weniger gebunden an alte Gesetze und Hierarchien."
Die Frau im roten Kleid nickte. "Wir stehen vor einer Wahl, Bruder. Manche von uns wollen zurückkehren. Einen neuen Riss öffnen, heimkehren zu dem, was wir kennen. Andere..." Sie warf einen Blick auf die Silberhaarige. "Andere haben sich entschieden zu bleiben. Menschen zu werden. Mit allen Konsequenzen."
"Einschließlich der Sterblichkeit", fügte der junge Mann hinzu.
Azramon holte tief Luft. "Und welche Wahl habt ihr getroffen?"
Die Gruppe tauschte Blicke aus. "Wir sind gespalten", antwortete der ältere Mann mit der Brille. "Zwei wollen zurück, zwei wollen bleiben. Du könntest den Ausschlag geben."
"Ihr wollt, dass ich entscheide?"
Die Frau im roten Kleid schüttelte den Kopf. "Nein. Wir wollen, dass du für dich entscheidest. Und uns dann deine Gründe nennst. Vielleicht hilft es uns, Klarheit zu finden."
Azramon schwieg lange. Die Frage, vor der er seit Monaten geflohen war, hatte ihn eingeholt.
"Ich brauche Zeit", sagte er schließlich.
Die Silberhaarige lächelte verständnisvoll. "Natürlich. Wir treffen uns in drei Tagen wieder hier."
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Drei Tage lang ging Azramon kaum aus seinem Zimmer. Er dachte nach, wägte ab, erinnerte sich an alles, was er in diesen Monaten gesehen und erfahren hatte.
Er dachte an den Dönerverkäufer, der ihm aus Freundlichkeit Essen geschenkt hatte. An die Cafébesitzerin, die ihm ohne Gegenleistung helfen wollte. An Herbert, der über die Freiheit der Wahl philosophiert hatte.
Er dachte an die Kinder im Park, an ihre unbändige Freude. An die kleinen Akte der Güte, die er täglich beobachtete. An die Musik, die er gehört hatte, an die Kunst, die er gesehen hatte, an all die Schönheit, die in der Hölle undenkbar gewesen wäre.
Aber er dachte auch an die Kälte und Einsamkeit, die er hier manchmal spürte. An die Verwirrung angesichts der endlosen menschlichen Widersprüche. An die Begrenztheit dieses sterblichen Daseins.
Als der dritte Abend kam, kehrte er zum Wasserwerk zurück. Die anderen erwarteten ihn bereits.
"Hast du dich entschieden?", fragte die Frau im roten Kleid.
Azramon nickte. "Ich bleibe."
Ein Raunen ging durch die Gruppe. "Warum?", fragte der junge Mann.
Azramon holte tief Luft. "Weil ich hier etwas gefunden habe, das es in unserer Welt nicht gibt. Freiheit. Die Freiheit zu wählen, wer ich sein will. Die Freiheit, mich zu verändern."
Die Silberhaarige nickte zustimmend. "Die größte Gabe der Menschheit."
"Aber du wirst sterben", warf der ältere Mann mit der Brille ein.
"Vielleicht." Azramon zuckte mit den Schultern. "Aber bis dahin werde ich gelebt haben. Wirklich gelebt, nicht nur existiert."
Die Frau im roten Kleid betrachtete ihn lange. "Eine mutige Wahl", sagte sie schließlich. "Ich respektiere sie, auch wenn ich sie nicht teile."
"Was wirst du jetzt tun?", fragte die Silberhaarige.
Azramon lächelte leicht. "Leben. Lernen. Versuchen, ein guter Mensch zu sein. Oder zumindest... ein interessanter."
Als er das Wasserwerk verließ, fühlte er eine seltsame Leichtigkeit. Er wusste, dass der Weg nicht einfach sein würde. Dass es Schmerzen geben würde, Enttäuschungen, Verluste – all die Dinge, die zum menschlichen Dasein gehörten.
Aber zum ersten Mal in seiner Existenz gehörte sein Weg ihm allein. Keine vorherbestimmte Rolle, keine ewige Hierarchie, kein unausweichliches Schicksal.
Nur Freiheit. Die schwierigste, wunderbarste Freiheit von allen.
Er blickte zum Nachthimmel hinauf. Irgendwo dort oben, zwischen den funkelnden Sternen, existierte ein Riss zwischen den Welten. Ein Weg zurück zu allem, was ihm vertraut war.
Azramon drehte ihm den Rücken zu und ging langsam in Richtung Stadt. Er hatte eine Wahl getroffen.
Die erste von vielen.
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