Schatten über Jahrhunderte - Eine Vampirgeschichte

Eine originelle Geschichte aus dem Anne Rice Universum

I. Das Konzert

Der Konzertsaal lag in gedämpftem Licht, als Eleonora durch die Hintertür glitt. Ihre Schritte waren lautlos auf dem alten Parkett, das unter den Füßen der Sterblichen so verräterisch knarrte. Die jahrhundertealte Vampirin konnte das Alter des Holzes riechen, die unzähligen Öle, mit denen es über Generationen hinweg behandelt worden war. Alles um sie herum erzählte Geschichten – der Staub in den Ecken, die winzigen Risse in den goldverzierten Säulen, selbst die leicht abgenutzten Samtvorhänge an den gewölbten Fenstern. Wien hatte sich verändert seit ihrer letzten Visite vor fast fünfzig Jahren, doch dieser Saal, dieses Heiligtum der Musik, schien der Zeit zu trotzen.

Wie sie selbst.

Eleonora fand einen Platz im hintersten Winkel des Balkons, wo die Schatten am tiefsten waren. Das menschliche Auge würde sie hier kaum wahrnehmen können, eine blasse Silhouette vielleicht, leicht zu übersehen und sofort wieder vergessen. Es war ein Talent, das sie über die Jahrhunderte perfektioniert hatte – präsent zu sein und doch unsichtbar zu bleiben.

Die Musiker betraten die Bühne, jugendliche Gestalten in schwarzem Zwirn, ihre Instrumente wie Verlängerungen ihrer selbst tragend. Eleonora spürte ihr Lampenfieber, roch die subtilen Veränderungen ihrer Körperchemie. Angst, Vorfreude, Ehrfurcht vor dem heiligen Akt des Musizierens. Sie beneidete sie um diese menschliche Verletzlichkeit.

Dann sah sie ihn. Den Cellisten. Etwas an seiner Haltung, der Art, wie er sein Instrument umarmte – fast schützend, als wäre es ein lebendiges Wesen – ließ sie erstarren. Seine dunklen Locken fielen ihm in die Stirn, während er sich setzte, und als er aufsah, um den Dirigenten zu beobachten, glaubte Eleonora für einen Moment, in ein Gesicht zu blicken, das sie vor Jahrhunderten zum letzten Mal gesehen hatte.

Marcus.

Natürlich konnte es nicht sein. Marcus war lange tot, verbrannt zu Asche in jenem schrecklichen Feuer in Venedig 1763. Sie hatte seine Schreie gehört, das Knistern seines Fleisches. Hatte zugesehen, wie das alte Palais in Flammen aufging, unfähig, ihren Schöpfer zu retten. Die Erinnerung schnitt noch immer wie ein Dolch durch ihr Inneres, selbst nach all den Jahren.

Und doch... die Ähnlichkeit war verblüffend. Dieselben hohen Wangenknochen, die schmale Nase, die sensiblen Lippen. Der junge Mann konnte kaum älter als fünfundzwanzig sein, genau das Alter, in dem Marcus zum Unsterblichen geworden war.

Als das Orchester zu spielen begann – Schuberts unvollendete Sinfonie, wie passend – versenkte sich Eleonora in den Klang. Die Musik floss durch sie hindurch wie Blut durch die Adern eines Lebenden. Es war einer jener seltenen Momente, in denen sie sich fast wieder lebendig fühlte, in denen die ewige Kälte ihrer Existenz für kurze Zeit von etwas anderem verdrängt wurde.

Der Cellist spielte mit einer Leidenschaft, die selbst in diesem talentierten Ensemble herausstach. Seine Augen waren geschlossen, sein ganzer Körper bewegte sich mit dem Instrument, als wären sie eins. Und als sein Solo begann, erstarrte Eleonora erneut. Die Art, wie er die Phrase formte, der leichte Vibrato-Ansatz – es war *seine* Technik. Marcus' unverkennbarer Stil, den er ihr beigebracht hatte in jenen frühen Jahren ihrer Unsterblichkeit.

Es konnte kein Zufall sein.

II. Die Begegnung

Nach dem Konzert wartete Eleonora in der Gasse hinter dem Musikverein. Der Regen hatte eingesetzt, ein feiner Nieselregen, der das Licht der Straßenlaternen in einen goldenen Schleier hüllte. Sie spürte die Nässe nicht, empfand weder Kälte noch Wärme – nur die ewige Gleichgültigkeit ihrer toten Haut gegenüber den Elementen.

Die Hintertür öffnete sich, und Musiker strömten heraus, lachend, redend, einige zündeten sich Zigaretten an. Der süßliche Geruch von Tabak und Adrenalin vermischte sich mit dem Regenwasser. Eleonora wartete geduldig. Was waren schon Minuten für jemanden, der in Jahrhunderten dachte?

Dann kam er, den Cellokästen über der Schulter, den Kragen seines Mantels gegen den Regen hochgeschlagen. Er ging schnell, zielsicher, als hätte er es eilig, irgendwo anzukommen.

"Entschuldigen Sie", sprach Eleonora ihn an, ihre Stimme ein leises Flüstern, das dennoch mühelos durch den Regen zu ihm drang.

Er blieb stehen, blinzelte überrascht. Menschen reagierten oft so auf ihren Anblick – diese Mischung aus Verwirrung und instinktiver Faszination. Ihre übernatürliche Schönheit wirkte wie ein Köder, lockte ihre Beute näher.

"Ja?" Seine Stimme klang tiefer, als sie erwartet hatte. Ein warmer Bariton mit einem leichten österreichischen Akzent.

"Ihr Spiel heute Abend war außergewöhnlich." Sie hielt Abstand, wissend, dass ihre Nähe manchmal überwältigend wirken konnte. "Besonders Ihr Solo im zweiten Satz."

Ein scheues Lächeln huschte über sein Gesicht. "Danke. Sind Sie Musikerin?"

"Gewissermaßen." Sie trat einen Schritt näher, studierte sein Gesicht im Licht der Straßenlaterne. Die Ähnlichkeit zu Marcus war noch frappierender aus der Nähe. "Woher kennen Sie diese besondere Technik? Diese Art, die Phrase aufzubauen?"

Seine Augenbrauen hoben sich leicht. "Sie haben ein gutes Ohr. Das ist eine alte Technik, die in meiner Familie weitergegeben wird. Mein Urgroßvater hat sie von seinem Lehrer gelernt, und der wiederum..." Er zuckte mit den Schultern. "Es geht weit zurück."

"Wer war Ihr Urgroßvater?" Die Frage kam zu schnell, zu drängend. Eleonora sah die leichte Verwirrung in seinen Augen.

"Anton Berger. Er war Cellist am Wiener Hof im späten 19. Jahrhundert." Er musterte sie nun genauer, seine Neugier offensichtlich geweckt. "Entschuldigen Sie, aber kennen wir uns? Sie kommen mir irgendwie bekannt vor."

Eleonora schüttelte leicht den Kopf. "Ich glaube nicht. Ich bin nur selten in Wien." Eine Lüge und doch nicht. Sie war oft hier gewesen, über die Jahrhunderte, aber immer unter verschiedenen Namen, verschiedenen Identitäten. "Mein Name ist Eleonora."

"Thomas." Er streckte ihr die Hand entgegen, eine so menschliche, vertrauensvolle Geste. Als sie seine Hand nahm, spürte sie seine Wärme wie einen Schock durch ihren kalten Körper fahren. Seine Augen weiteten sich leicht – er hatte die unnatürliche Kälte ihrer Haut bemerkt.

"Ihre Hände sind eiskalt." Ein besorgter Blick auf ihren dünnen Mantel. "Sie müssen durchgefroren sein. Darf ich Sie auf einen Kaffee einladen? Es gibt ein gutes Café gleich um die Ecke."

Eleonora zögerte. Es war lange her, dass sie sich in menschlicher Gesellschaft aufgehalten hatte, ohne zu jagen. Die Versuchung war immer da, das leise Flüstern des Hungers, der nie ganz verschwand. Und doch – die Möglichkeit, mehr über diesen jungen Mann zu erfahren, über seine Verbindung zu Marcus, war zu verlockend.

"Gerne", antwortete sie schließlich.

III. Erinnerungen an Venedig

Venedig, 1763

Der Palazzo Morosini erhob sich wie eine alabasterweiße Vision aus den dunklen Wassern des Canal Grande. Kerzen erhellten jedes Fenster, ihre Lichter tanzten auf der schwarzen Oberfläche des Kanals wie gefallene Sterne. Musik und Gelächter drangen durch die geöffneten Fenster in die laue Sommernacht.

Eleonora stand auf dem Balkon ihres Schlafgemachs, das weiße Seidenkleid wie eine zweite Haut an ihrem marmorblassen Körper. Ihr langes schwarzes Haar fiel offen über ihre Schultern – eine Frisur, die für eine Dame ihres vorgeblichen Standes skandalös gewesen wäre, hätte jemand sie gesehen. Aber niemand würde sie sehen. Nicht wenn sie es nicht wollte.

Die Tür hinter ihr öffnete sich ohne ein Geräusch. Sie musste sich nicht umdrehen, um zu wissen, wer es war. Seine Präsenz erfüllte den Raum wie ein subtiles Parfüm – alt, mächtig, vertraut.

"Du hast nicht gejagt", sagte Marcus leise. Seine Stimme hatte einen leichten sächsischen Akzent bewahrt, ein Echo seiner menschlichen Herkunft, die bereits verblasste, als Martin Luther seine Thesen an die Kirchentür schlug.

"Ich hatte keinen Hunger." Eleonora wandte sich zu ihm um. Marcus stand im Türrahmen, seine schlanke Gestalt in schwarzen Samt gekleidet. Sein langes blondes Haar war zu einem strengen Zopf gebunden, wie es dem aktuellen Stil entsprach. Er sah aus wie ein Aristokrat, ein Diplomat vielleicht oder ein reicher Kunstsammler. Die perfekte Tarnung.

"Lüg nicht, meine Schöne." Er kam näher, seine Bewegungen so fließend, dass es aussah, als würde er schweben. "Ich spüre deinen Hunger. Er singt zu mir wie ein fernes Lied."

Er streckte die Hand aus und strich sanft über ihre Wange. Seine Berührung war kühl, doch für sie fühlte sie sich warm an – wärmer als alles Menschliche.

"Was beunruhigt dich?" fragte er.

Eleonora wandte den Blick ab. "Diese endlosen Feste. Diese Täuschungen. Manchmal frage ich mich, wozu das alles dient."

Marcus lachte leise. "Du klingst wie ein Kind, das der Süßigkeiten überdrüssig geworden ist." Er deutete auf den Palazzo gegenüber. "Sieh sie dir an – wie sie tanzen, wie sie lieben, wie sie verzweifelt versuchen, jeden Moment ihrer kurzen Leben auszukosten. Wir stehen außerhalb dieser Verzweiflung, Eleonora. Wir sind die wahren Beobachter der menschlichen Komödie."

"Und was, wenn ich Teil dieser Komödie sein will?" Sie drehte sich zu ihm um, ihre Augen funkelten im Kerzenlicht. "Was, wenn ich mich nach mehr sehne als nur zu beobachten?"

Marcus' Gesicht verdunkelte sich. "Wir können nicht zurück, meine Liebe. Das weißt du."

"Nein, aber wir können erschaffen." Ihre Stimme wurde leidenschaftlicher. "Die Musik, Marcus. Wenn ich spiele, fühle ich mich fast wieder lebendig. Warum können wir nicht—"

"Genug!" Seine Stimme war sanft, aber seine Augen hatten sich verändert – tiefrot nun, gefährlich. "Du weißt, warum wir im Verborgenen leben müssen. Du kennst die Gesetze unserer Art."

Eleonora senkte den Blick. Natürlich kannte sie die Gesetze. Die älteren Vampire tolerierten keine auffälligen Verhaltensweisen, keine öffentliche Zurschaustellung. Die Strafe für solche Vergehen war endgültig.

"Komm jetzt." Marcus' Stimme wurde wieder weicher. Er hielt ihr seine Hand hin. "Die Nacht ist noch jung, und der Doge gibt ein Fest, das wir nicht verpassen sollten."

Mit einem letzten Blick auf die glitzernden Wasser des Kanals nahm Eleonora seine Hand und folgte ihm hinaus in die venezianische Nacht, unwissend, dass es ihre letzte gemeinsame Nacht sein würde.

IV. Das Café

"Sind Sie Musikerin?" Thomas rührte in seinem Kaffee, während er sie über den kleinen Marmortisch hinweg betrachtete. Das Café war alt, mit holzgetäfelten Wänden und gedämpftem Licht – ein Ort, an dem die Zeit langsamer zu vergehen schien.

Eleonora nippte an ihrem unberührten Espresso, genoss den Geruch, auch wenn die Flüssigkeit selbst für sie keinen Nutzen hatte. Es war eine der Maskierungen, die sie über die Jahrhunderte perfektioniert hatte – wie man so tat, als würde man essen und trinken, wie man atmete, obwohl es nicht nötig war, wie man lächelte, obwohl man selten Freude empfand.

"Ich war es einmal", antwortete sie wahrheitsgemäß. "Vor langer Zeit."

"Und jetzt?" 

"Nun, sagen wir, ich bin eine... Sammlerin. Von Erfahrungen, Geschichten, Musik." Sie lächelte leicht. "Ich reise viel."

Thomas lehnte sich zurück, sein Gesicht von aufrichtiger Neugier geprägt. Es war erfrischend, diese Offenheit zu sehen, so selten in einer Welt, wo die meisten Menschen Masken trugen, die fast so überzeugend waren wie ihre eigene.

"Sie erwähnten meinen Spielstil", sagte er nach einer Weile. "Sind Sie mit der Wiener Cellotradition vertraut?"

Eleonora dachte an Marcus, wie er ihr zeigte, wie man den Bogen hält, die richtige Spannung in den Fingern, die subtile Drehung des Handgelenks. All das in einem anderen Jahrhundert, in einem Palast, der längst zu Staub zerfallen war.

"Ich kenne die älteren Traditionen", sagte sie vorsichtig. "Die Art des Spiels, die vor den modernen Techniken kam."

"Faszinierend." Seine Augen leuchteten. "Mein Urgroßvater hinterließ Tagebücher, in denen er von seinem Lehrer schrieb – einem mysteriösen Mann namens Marcus, der angeblich ein Cellospiel lehrte, das 'die Seelen der Toten erwecken könnte'." Er lachte leicht. "Ziemlich melodramatisch, aber meine Familie hat seine Techniken über Generationen bewahrt."

Eleonora erstarrte innerlich, obwohl sie darauf achtete, ihre äußere Ruhe zu bewahren. Marcus. Sein Name, nach all dieser Zeit, aus dem Mund eines Sterblichen.

"Hat Ihr Urgroßvater noch mehr über diesen Lehrer geschrieben?" fragte sie, bemüht, ihre Stimme gleichmäßig zu halten.

Thomas zuckte mit den Schultern. "Nicht viel Konkretes. Er verschwand angeblich plötzlich – nach einem Brand in Italien, glaube ich. Anton schrieb, er hätte danach jahrelang nach ihm gesucht."

*Natürlich hatte er das*. Eleonora erinnerte sich an den jungen Cellisten, der Marcus so bewundert hatte. Ein österreichischer Musiker, der nach Venedig gekommen war, um zu lernen. Sie hatte ihn kaum beachtet – einer von vielen Sterblichen, die kurz in ihr unsterbliches Leben traten, nur um bald wieder zu verschwinden.

Aber offensichtlich hatte Marcus ihn bemerkt. Hatte ihm genug beigebracht, dass seine Techniken über Generationen weitergegeben wurden. Eine Art von Unsterblichkeit, die nichts mit Blut zu tun hatte.

"Das klingt wie eine faszinierende Familiengeschichte", sagte sie schließlich.

Thomas nickte eifrig. "Ich recherchiere darüber für meine Dissertation. 'Vergessene Meister: Die geheimen Cellotechniken des 18. Jahrhunderts'." Er beugte sich vor, seine Stimme wurde leiser, vertraulicher. "Tatsächlich habe ich eine alte Notation gefunden – Stücke, die angeblich von diesem Marcus komponiert wurden. Die Musik ist... unglaublich. Anders als alles, was ich je gespielt habe."

Eleonora spürte eine lange nicht gefühlte Emotion – echte Überraschung. Marcus' Kompositionen. Seine privaten Werke, die er nur ihr vorgespielt hatte, in jenen langen Nächten, wenn die Welt um sie herum schlief.

"Ich würde diese Stücke gerne einmal sehen", sagte sie, unfähig, ihre Sehnsucht zu verbergen.

Etwas in ihrer Stimme muss ihre tiefe Verbindung zu dem Thema verraten haben, denn Thomas sah sie nun aufmerksamer an, mit einem neuen Interesse in seinen Augen.

"Sie wissen mehr darüber, nicht wahr?" Er senkte die Stimme noch mehr. "Über diesen Marcus. Über seine Musik. Ich kann es in Ihren Augen sehen."

Für einen Moment war Eleonora versucht, ihm alles zu erzählen. Die Wahrheit über Marcus, über sich selbst, über die Jahrhunderte, die sie durchlebt hatte. Es wäre so einfach gewesen, diesen jungen Mann zu verführen, nicht nur mit ihrem Körper, sondern mit Geschichten aus einer Zeit, die für ihn nur in vergilbten Büchern existierte.

Stattdessen stand sie auf. "Es ist spät geworden. Ich sollte gehen."

Thomas erhob sich ebenfalls, offensichtlich enttäuscht. "Warten Sie." Er kramte in seiner Tasche und zog eine Visitenkarte hervor. "Hier ist meine Adresse. Ich wohne nicht weit von hier. Wenn Sie... wenn Sie mehr über diese Musik wissen möchten, oder wenn Sie einfach nur reden wollen..."

Eleonora nahm die Karte, berührte dabei kurz seine warmen Finger. Ein Funke sprang zwischen ihnen über – nicht übernatürlich, sondern zutiefst menschlich.

"Vielleicht", sagte sie leise und wandte sich zum Gehen.

V. Die Entscheidung

Drei Nächte später stand Eleonora vor Thomas' Wohnhaus. Es war ein altes Gebäude im 7. Bezirk, mit einer abblätternden Fassade und schmiedeeisernen Balkonen. Sie hatte die vergangenen Nächte damit verbracht, über die Stadt zu wandern, zu jagen (diskret, immer diskret), und nachzudenken.

Sie wusste, dass sie gehen sollte. Dass die Verbindung zu diesem jungen Mann nichts als Schmerz bringen konnte – für ihn, für sie. Und doch zog es sie zu ihm, zu seiner Musik, zu seiner Verbindung zu Marcus.

Im dritten Stock brannte Licht. Sie konnte die gedämpften Klänge eines Cellos hören, die durch die geschlossenen Fenster drangen. Selbst aus dieser Entfernung erkannte sie die Melodie – eine von Marcus' frühesten Kompositionen, ein Stück, das er geschrieben hatte, kurz nachdem er sie verwandelt hatte.

*"Es ist für dich", hatte er gesagt, während seine Finger über die Saiten tanzten. "Ein Requiem für dein menschliches Leben und eine Begrüßung deines unsterblichen Daseins."*

Die Erinnerung schmerzte noch immer. Marcus hatte so viel versprochen – ewige Schönheit, ewiges Wissen, die Freiheit, die Welt durch die Augen der Jahrhunderte zu sehen. Was er nicht erwähnt hatte, war die Einsamkeit. Die endlose Parade von Gesichtern, die kamen und gingen, während sie blieb, unveränderlich, gefangen in einem perfekten Körper, der nie altern würde.

Mit einem Gedanken überwand sie die Schwerkraft und schwebte lautlos zum Balkon des dritten Stocks empor. Durch die Spitzengardinen konnte sie Thomas sehen, der mit geschlossenen Augen spielte, völlig in der Musik versunken. Seine Finger bewegten sich genau so über die Saiten, wie Marcus es getan hatte – dieselbe Technik, perfektioniert über Jahrhunderte, weitergegeben von Meister zu Schüler, von Vater zu Sohn.

Sie klopfte sanft an die Glastür. Thomas öffnete die Augen, starrte sie einen Moment ungläubig an, bevor er aufstand und die Balkontür öffnete.

"Eleonora?" Seine Stimme schwankte zwischen Überraschung und Freude. "Wie sind Sie... ich meine, der Balkon ist..."

"Darf ich hereinkommen?" fragte sie ruhig.

Er trat zurück, eine unbewusste Einladung, die sie annehmen konnte, ohne die alten Gesetze zu verletzen. Die warme Luft des Zimmers umhüllte sie, durchdrungen vom Harzgeruch des Cellos und dem leichten Duft von Kaffee und alten Büchern.

"Ich habe gehofft, dass Sie kommen würden", sagte Thomas, nachdem er die erste Überraschung überwunden hatte. "Obwohl ich zugeben muss, dass ich die Tür erwartet hätte."

Ein leichtes Lächeln huschte über Eleonoras Gesicht. "Ich bevorzuge manchmal... unkonventionelle Eingänge."

Sein Blick wanderte zum Balkon und zurück zu ihr, eine unausgesprochene Frage in seinen Augen, die er jedoch nicht stellte. Stattdessen deutete er auf das Cello. "Ich habe an den Stücken gearbeitet, von denen ich Ihnen erzählt habe."

"Ich habe es gehört." Sie trat näher an das Instrument heran, strich mit den Fingern über das polierte Holz. "Dieses Stück... es ist sehr alt."

"Über zweihundert Jahre, wenn die Datierung in den Noten stimmt." Thomas nahm einen Stapel vergilbter Blätter vom Tisch. "Hier, sehen Sie selbst."

Eleonora nahm die Noten, ihre Finger zitterten leicht. Die Handschrift war unverkennbar – die eleganten Schwünge, die präzisen Notenhälse. Marcus' Handschrift. Und am unteren Rand jeder Seite, kaum sichtbar für menschliche Augen, ein kleines Symbol – ein M, verschlungen mit einem E.

Marcus und Eleonora.

"Woher haben Sie diese?" fragte sie, ihre Stimme kaum mehr als ein Flüstern.

"Aus dem Nachlass meines Urgroßvaters. Sie waren in einem versteckten Fach in seinem alten Cellokoffer." Thomas beobachtete sie genau. "Sie kennen diese Musik, nicht wahr?"

Eleonora legte die Noten zurück auf den Tisch. "Es war einmal... sehr wichtig für mich."

Thomas zögerte, dann griff er nach seinem Cello. "Würden Sie... möchten Sie es spielen?"

Die Vorstellung, nach so langer Zeit wieder ein Instrument zu berühren, ließ eine längst vergessene Sehnsucht in ihr aufsteigen. Wie lange war es her, dass sie gespielt hatte? Fünfzig Jahre? Siebzig? Nach Marcus' Tod hatte sie die Musik aufgegeben, zu schmerzhaft waren die Erinnerungen.

"Ich bin außer Übung", sagte sie leise.

"Das macht nichts." Er hielt ihr das Instrument hin. "Bitte."

Langsam, als würde sie ein schlafendes Kind berühren, nahm Eleonora das Cello. Sie setzte sich, positionierte es zwischen ihren Beinen und nahm den Bogen. Die Haltung kehrte so natürlich zurück, als hätte sie nie aufgehört zu spielen.

Als sie den ersten Ton spielte, durchfuhr es sie wie ein elektrischer Schlag. Die Vibration des Instruments gegen ihren Körper, der Klang, der den Raum füllte – es war, als würde ein Teil von ihr wieder zum Leben erwachen, ein Teil, den sie für immer verloren geglaubt hatte.

Sie spielte das Stück von Anfang an, jede Note perfekt, jede Phrase genau so, wie Marcus es komponiert hatte. Die Musik strömte durch sie hindurch, verband sie mit der Vergangenheit, mit ihm, mit allem, was sie verloren hatte.

Als sie endete, herrschte absolute Stille im Raum. Thomas starrte sie an, sein Gesicht eine Mischung aus Ehrfurcht und Verwirrung.

"Das war... unglaublich", sagte er schließlich. "Sie haben es gespielt, als hätten Sie es selbst geschrieben."

"Nicht geschrieben." Sie reichte ihm das Cello zurück, ihre Bewegungen vorsichtig kontrolliert. "Aber ich kannte den Komponisten... sehr gut."

Thomas' Augen weiteten sich. "Das ist unmöglich. Diese Noten sind über zweihundert Jahre alt."

Eleonora sah ihm direkt in die Augen, traf eine Entscheidung, die sie vielleicht bereuen würde. "Thomas, was würden Sie sagen, wenn ich Ihnen erzähle, dass ich dabei war, als diese Musik geschrieben wurde?"

Die Wahrheit

Thomas lachte nervös. "Ich würde sagen, dass Sie einen sehr seltsamen Humor haben."

Eleonora lächelte nicht. Sie stand regungslos da, ihr blasses Gesicht im sanften Licht der Stehlampe wie aus Marmor gemeißelt. Ihre Augen, die bisher von einem warmen Bernsteinton gewesen waren, schienen nun in einem übernatürlichen Goldton zu glühen.

"Was, wenn ich Ihnen sage, dass ich älter bin, als ich aussehe?" fragte sie leise. "Viel älter?"

Thomas' Lächeln verblasste. Er studierte ihr Gesicht mit neuer Aufmerksamkeit, als sähe er sie zum ersten Mal. "Wer sind Sie wirklich?"

"Ich bin genau die, die ich zu sein scheine", sagte Eleonora und trat einen Schritt näher zu ihm. "Nur älter. Viel älter."

Thomas wich instinktiv zurück, sein Rücken stieß gegen die Wand. "Das ist nicht möglich."

"Ist es nicht?" Ein trauriges Lächeln huschte über ihr Gesicht. "Thomas, die Welt beherbergt Geheimnisse, die jenseits rationaler Erklärungen liegen. Ich wurde im Jahre 1740 in Florenz geboren. Im Winter 1761 verwandelte mich Marcus in das, was ich heute bin."

"Und was genau sind Sie?" Seine Stimme zitterte leicht, aber seine Augen zeigten mehr Faszination als Furcht.

"Ich glaube, Sie kennen die Antwort bereits", antwortete sie sanft. "Sie haben doch Anne Rice gelesen, nicht wahr? Die Geschichten sind näher an der Wahrheit, als die meisten glauben."

Thomas schluckte schwer. "Ein... Vampir?" Das Wort klang absurd in seinem Mund, ein Wort aus Kindergeschichten und billigen Horrorfilmen, nicht aus der realen Welt.

Eleonora antwortete nicht sofort. Stattdessen streckte sie langsam ihre Hand aus und berührte seine Wange. Ihre eiskalten Finger ließen ihn erschaudern, aber er wich nicht zurück.

"Marcus war mein Schöpfer und mein Geliebter", sagte sie endlich. "Er war ein Meister des Cellos, lange bevor Bach seinen Namen unsterblich machte. Die Musik, die Sie spielen, hat er für mich komponiert – in einer Zeit, als Mozart noch ein Kind war."

Vergangenheit und Gegenwart

Thomas setzte sich langsam auf den Klavierhocker, seine Beine plötzlich zu schwach, um ihn zu tragen. Seine wissenschaftliche Ausbildung rebellierte gegen alles, was Eleonora sagte, und doch... die Art, wie sie die alten Stücke gespielt hatte, die übernatürliche Perfektion ihrer Bewegungen, die seltsame Kälte ihrer Haut – alles deutete auf etwas hin, das jenseits seiner Erfahrungswelt lag.

"Erzählen Sie mir von ihm", forderte er schließlich. "Von Marcus. Von Venedig."

Eleonora setzte sich ihm gegenüber auf einen alten Sessel. Im gedämpften Licht wirkte ihre Haut beinahe durchscheinend, als könnte man durch sie hindurch die Jahrhunderte erkennen, die sie durchlebt hatte.

"Marcus wurde Ende des 16. Jahrhunderts geboren", begann sie, ihre Stimme ein melodisches Flüstern. "Er war der uneheliche Sohn eines sächsischen Adeligen. Seine Mutter war eine Magd und starb bei seiner Geburt. Er wuchs in Armut auf, doch sein musikalisches Talent war außergewöhnlich. Mit siebzehn lief er von zu Hause fort und reiste durch Europa, spielte an Höfen und in Tavernen, überall, wo man ihm zuhörte."

Sie lächelte bei der Erinnerung, ihre Augen blickten in eine Vergangenheit, die für Thomas unvorstellbar fern war.

"In Venedig traf er auf einen älteren Vampir, der von seiner Musik besessen war. Dieser Vampir – Vincenzo war sein Name – verwandelte Marcus, damit seine Kunst niemals verloren ginge." Sie zuckte leicht mit den Schultern. "Eine sentimentale, aber grausame Geste. Marcus hasste anfangs seine neue Existenz, fühlte sich betrogen. Er tötete Vincenzo im Zorn und flüchtete."

"Wie haben Sie ihn kennengelernt?" fragte Thomas, gefangen in ihrer Geschichte.

"Ich war eine junge Witwe in Florenz. Mein Mann, ein viel älterer Bankier, war gestorben und hatte mir ein ansehnliches Vermögen hinterlassen. Ich nutzte meine neue Freiheit, um meiner Leidenschaft für Musik zu frönen. Ich veranstaltete Konzerte in meinem Palazzo, lud die größten Musiker der Zeit ein." Sie lächelte wieder, verloren in Erinnerungen. "Marcus kam eines Abends. Er spielte wie kein anderer vor ihm. In jener Nacht wusste ich, dass ich ihn wiedersehen musste."

"Und er verwandelte Sie?" Thomas' Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.

Eleonora nickte. "Nach zwei Jahren intensiver Leidenschaft. Er widerstand lange – er wollte mir seinen Fluch nicht auferlegen, wie er es nannte. Doch ich bestand darauf. Die Vorstellung, zu altern, während er ewig jung blieb... es war unerträglich."

Sie stand auf und trat ans Fenster, blickte hinaus auf das nächtliche Wien. "Wir verbrachten fast zwei Jahrhunderte gemeinsam. Paris während der Revolution, London zur Zeit Byrons, Wien während des Kongresses... wir erlebten Geschichte, während sie geschah. Und überall machte Marcus Musik, komponierte Stücke, die nie aufgeführt wurden – zu gefährlich wäre es gewesen, zu viel Aufmerksamkeit zu erregen."

"Aber er unterrichtete meinen Urgroßvater", warf Thomas ein.

Eleonora drehte sich zu ihm um. "Ja. Anton war anders als die anderen Sterblichen. Er hatte eine Seele, die der Musik vollkommen ergeben war. Marcus sah in ihm eine Möglichkeit, sein Erbe zu bewahren, ohne die Regeln unserer Art zu brechen." Sie seufzte leise. "Er wollte ihn verwandeln, ich war dagegen. Wir stritten darüber in jener letzten Nacht in Venedig."

Ihre Stimme brach leicht. "Das Feuer brach im Westflügel des Palazzo aus. Die anderen Vampire – die Älteren, die Mächtigen – sie hatten von Marcus' Plänen erfahren. Sie kamen, um ein Exempel zu statuieren. Marcus schickte mich fort, um Antons Leben zu retten..." Sie schloss kurz die Augen. "Als ich zurückkehrte, stand das Gebäude in Flammen. Marcus war... fort."

Thomas stand auf, trat zu ihr. In seinen Augen spiegelte sich das Mondlicht. "Es tut mir leid", sagte er leise und meinte es ehrlich.

Die Versuchung

Der Morgen dämmerte bereits, als Eleonora ihre Geschichte beendete. Sie hatte Thomas alles erzählt – ihre Jahrhunderte der Einsamkeit nach Marcus' Tod, ihre Wanderungen durch die sich verändernde Welt, ihre Begegnungen mit anderen ihrer Art. Sie hatte von Lestat gesprochen, von Louis, von Armand – anderen mächtigen Vampiren, deren Namen er aus Büchern kannte, die aber in Wirklichkeit existierten.

"Ich sollte gehen", sagte sie schließlich. "Die Sonne..."

Thomas nickte benommen. In den letzten Stunden hatte sich sein Weltbild fundamental verändert. Die rational erklärbare Welt, an die er sein Leben lang geglaubt hatte, hatte Risse bekommen, durch die das Übernatürliche sickerte.

"Werden Sie wiederkommen?" fragte er, als sie zum Balkon trat.

Eleonora drehte sich zu ihm um, ihr Gesicht im ersten fahlen Licht des Tages fast transparent. "Sollte ich?"

"Ja", antwortete er ohne zu zögern. "Ich möchte mehr lernen. Über die Musik, über Marcus... über Sie."

Ein trauriges Lächeln huschte über ihre Lippen. "Thomas, ich bin gefährlich für Sie. Meine Welt ist nichts, wonach Sie streben sollten."

"Ich fürchte Sie nicht."

"Vielleicht sollten Sie das aber." Sie trat wieder zu ihm, ihre Bewegung so schnell, dass er sie kaum wahrnahm. Plötzlich stand sie direkt vor ihm, ihr Gesicht nur Zentimeter von seinem entfernt. "Ich bin ein Raubtier, Thomas. Auch wenn ich es gut verberge – ich töte, um zu leben."

Er schluckte, aber wich nicht zurück. "Sie hätten mich längst töten können, wenn Sie es gewollt hätten."

"Wahr", flüsterte sie. "Aber es gibt andere Gefahren als den Tod."

Ihre Hand strich über seinen Hals, fühlte seinen pulsierenden Herzschlag unter der warmen Haut. Die Versuchung war überwältigend – nicht nur sein Blut zu nehmen, sondern ihm alles zu geben. Ihn zu verwandeln, wie Marcus es einst mit ihr getan hatte. Nie wieder allein zu sein.

"Ich könnte Sie zu dem machen, was ich bin", sagte sie leise. "Sie könnten für immer leben, Thomas. Die Musik für alle Ewigkeit spielen."

Seine Augen weiteten sich, eine Mischung aus Furcht und Faszination darin. "Könnten Sie das wirklich tun?"

"Ja." Sie ließ ihre Hand sinken. "Aber ich werde es nicht."

Er sah sie verwirrt an. "Warum nicht?"

"Weil ich Marcus geliebt habe", antwortete sie einfach. "Und er liebte die Musik zu sehr, um sie sterben zu lassen."

"Das verstehe ich nicht."

Eleonora seufzte leise. "Marcus wollte, dass seine Musik weiterlebt durch menschliche Hände, durch sterbliche Seelen, die ihre Vergänglichkeit kennen und deshalb jede Note mit einer Intensität spielen, die wir Unsterblichen nie erreichen können." Sie berührte sanft sein Gesicht. "Sie sind sein Erbe, Thomas. Nicht ich. Sie und Ihre Musik."

Das Vermächtnis

In den folgenden Wochen kehrte Eleonora jede Nacht zu Thomas zurück. Sie arbeiteten gemeinsam an Marcus' vergessenen Kompositionen, sie lehrte ihn die Feinheiten seiner Technik, die subtilen Nuancen, die in keiner schriftlichen Notation festgehalten werden konnten.

Thomas lernte schnell, sein natürliches Talent geschärft durch ihre jahrhundertealte Erfahrung. Bald spielte er die komplexesten Stücke mit einer Perfektion, die selbst Eleonora erstaunte.

"Sie sind bereit", sagte sie eines Nachts, als er gerade ein besonders schwieriges Präludium beendet hatte.

"Wofür?" fragte er.

"Diese Musik gehört nicht ins Verborgene, Thomas. Sie wurde geschrieben, um gehört zu werden." Sie nahm seine Hand in ihre. "Es ist Zeit, Marcus' Vermächtnis mit der Welt zu teilen."

Thomas starrte sie ungläubig an. "Sie meinen... öffentlich aufführen? Aber Sie sagten, die älteren Vampire..."

"Die alten Gesetze haben sich gelockert", erklärte sie. "Die Welt hat sich verändert. Wir leben heute verborgener denn je, aber paradoxerweise können wir offener sein als früher. In einer Zeit, in der jedes Wunder technisch erklärt werden kann, in der jede übernatürliche Erscheinung als Trick abgetan wird – in dieser Zeit sind wir seltsamerweise sicherer."

Thomas nickte langsam. Der Gedanke, diese wunderbaren Kompositionen der Öffentlichkeit zu präsentieren, erfüllte ihn mit einer Mischung aus Aufregung und Ehrfurcht.

"Aber wie erkläre ich die Herkunft der Stücke?" fragte er praktisch.

Eleonora lächelte. "Die Wahrheit, natürlich. Sie haben verschollene Manuskripte eines unbekannten Komponisten des 18. Jahrhunderts entdeckt – in den Unterlagen Ihres Urgroßvaters. Der Rest ist akademische Arbeit."

Das Konzert

Sechs Monate später stand Thomas auf der Bühne des Wiener Konzerthauses. Der Saal war gefüllt mit Musikliebhabern, Kritikern, Professoren – alle gekommen, um die sensationelle Entdeckung zu hören: Die vergessenen Werke eines unbekannten Meisters, die mit denen von Bach und Vivaldi konkurrieren konnten.

Eleonora saß in der letzten Reihe, tief im Schatten verborgen. Sie beobachtete, wie Thomas sein Cello in Position brachte, wie sein Blick kurz durch den Saal schweifte, als suche er nach ihr.

Als er zu spielen begann, hielt die Menge den Atem an. Die erste Note schwebte durch den Raum, kristallklar und voller Emotion. Thomas spielte mit geschlossenen Augen, sein ganzer Körper eins mit dem Instrument, mit der Musik.

Eleonora schloss ebenfalls die Augen. Die Klänge trugen sie zurück, zu Nächten in Venedig, zu Marcus' sanftem Lächeln, zu den Jahrhunderten, die sie gemeinsam verbracht hatten. Sie spürte seine Anwesenheit so deutlich, als stünde er neben ihr.

Nach dem Konzert wartete sie in der Gasse hinter dem Konzerthaus – genau wie bei ihrer ersten Begegnung. Der Applaus hallte noch durch die offenen Fenster, enthusiastisch, ungläubig angesichts der Schönheit, die sie gerade erlebt hatten.

Thomas kam durch die Hintertür, sein Gesicht strahlend vor Glück und Erschöpfung. Als er sie sah, huschte ein sanftes Lächeln über sein Gesicht.

"Sie waren da", sagte er, keine Frage, sondern eine Feststellung.

"Natürlich." Sie trat zu ihm. "Es war wundervoll, Thomas. Marcus wäre stolz auf Sie."

Er senkte den Blick, plötzlich schüchtern. "Ich habe nur gespielt, was Sie mir beigebracht haben."

"Nein." Sie schüttelte sanft den Kopf. "Sie haben Ihre eigene Seele hineingelegt, Ihre Sterblichkeit, Ihre Leidenschaft. Das war nie meine Gabe – es war immer Ihre."

Thomas sah ihr in die Augen, sein Blick intensiv. "Bleiben Sie, Eleonora. Bleiben Sie in Wien. Wir könnten zusammenarbeiten, mehr von Marcus' Musik entdecken, sie zum Leben erwecken."

Ein Teil von ihr wollte zusagen. Die Einsamkeit der Jahrhunderte hatte an ihr genagt, und Thomas' Anwesenheit, seine Begeisterung für die Musik, hatte etwas in ihr wiederbelebt, das sie für längst verloren gehalten hatte.

Und doch...

"Ich kann nicht, Thomas", sagte sie leise. "Ich muss weiterziehen. Es ist sicherer so – für Sie und für mich."

"Aber—"

Sie legte einen Finger auf seine Lippen. "Hören Sie mir zu. Was Sie heute getan haben, ist erst der Anfang. Marcus' Musik lebt nun wieder, dank Ihnen. Das ist ein Geschenk, das wichtiger ist als alles, was ich Ihnen je hätte geben können."

Er nahm ihre Hand, drückte sie an seine Wange. "Ich werde Sie vermissen."

"Und ich Sie." Sie lächelte traurig. "Aber wer weiß? Die Welt ist kleiner geworden in den letzten Jahrhunderten. Vielleicht kreuzen sich unsere Wege wieder."

Sie zögerte einen Moment, dann beugte sie sich vor und küsste ihn sanft auf die Stirn – ein Kuss, der nach Abschied schmeckte und nach Segen.

"Leben Sie wohl, Thomas Berger", flüsterte sie. "Spielen Sie weiter. Für Marcus. Für mich. Für alle, die vergehen werden, während die Musik bleibt."

Dann war sie verschwunden, so plötzlich, dass Thomas sich fragte, ob sie je wirklich da gestanden hatte. Nur die leichte Kälte auf seiner Stirn, wo ihre Lippen ihn berührt hatten, bewies ihm, dass er nicht geträumt hatte.

Epilog

Paris, 2045. Die Nacht war warm, der Frühling hatte die Stadt in ein Meer aus Blüten und süßen Düften verwandelt. Eleonora schlenderte durch die Straßen von Saint-Germain, vorbei an Cafés und Boutiquen, die sich seit ihrer letzten Visite vor dreißig Jahren kaum verändert hatten.

Vor einem Schaufenster blieb sie stehen. Ein altes Plakat kündigte ein Cellokonzert an – eine Retrospektive der Werke von "M. Venetus", dem mysteriösen Komponisten, dessen Werke vor zwei Jahrzehnten die klassische Musikwelt revolutioniert hatten.

Der Interpret: Sofia Berger, die Enkelin von Thomas.

Eleonora lächelte. Marcus' Musik lebte weiter, wurde weitergegeben von Generation zu Generation, ein unsterbliches Erbe in sterblichen Händen.

Sie wandte sich ab und setzte ihren Weg fort, eine einsame Gestalt in der Pariser Nacht. Die Welt drehte sich weiter, veränderte sich um sie herum, während sie selbst unverändert blieb. Doch zum ersten Mal seit Jahrhunderten fühlte sie sich nicht mehr ganz so allein.

Irgendwo spielte jemand Marcus' Musik, und solange diese Klänge die Luft erfüllten, lebte ein Teil von ihm – und von ihr – weiter in der Welt der Sterblichen.

Ende

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